Sklave 1.4

Ich blickte um mich. Ringsum erwachte die Stadt zum Leben. Die Bewohner öffneten die Fensterläden ihrer Häuser und die ersten Verkäufer boten ihre Waren in Geschäften und an Ständen an. Der alte Mann ging zu einem der Händler und kaufte drei mit Gemüse gefüllte Teigtaschen. Er reichte sie mir. Erst, nachdem er mir freundlich zu nickte, griff ich zögerlich zu. Wie herrlich sie dufteten! Ich biss hinein. Der frische Teig! Das köstliche Aroma von Gewürzen! Es war viele Jahre her, seit ich sie das letzte Mal probiert hatte.

Während ich mit verzücktem Gesichtsausdruck aß, machte mein neuer Herr in einem Geschäft weitere Besorgungen. Als er fertig war, trat er vor mich, klopfte mit seinem Stab auf den Boden und sagte: “Schon Lǎozǐ wusste, dass auch der längste Marsch mit dem ersten Schritt beginnt. Lass uns gehen! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.”

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Wir verließen die Stadt. Die Sonne war aufgegangen und am blauen Himmel standen kleine Wölkchen. Es versprach ein angenehmer Tag zu werden. Der Fremde führte uns zügigen Schrittes nach Norden, wo eine Kette bewaldeter Hügel das Tal begrenzte. Die Straße führte uns durch Reis- und Gemüsefelder, die bereits seit dem Morgengrauen emsig von Bauern und Sklaven bearbeitet wurden. Obwohl auf den Feldern und Straßen reger Betrieb herrschte, schien sich niemand weiter um uns zu kümmern. Ich war aufgewühlt von den Ereignissen der letzten Stunden. Gestern noch war ich selbst im schlammigen Wasser dieser Felder gestanden, hatte hungrig neue Bewässerungsgräben gezogen, mit rissigen Händen nach Schädlingen auf den Pflanzen gesucht, oder mit abgebrochenen Fingernägeln Wurzeln ausgegraben. Nun aber marschierte ich mit vollem Bauch und bis auf ein flaues Gefühl der Ungewissheit nahezu unbeschwert an meinem bisherigen Leben vorbei.

Mit federndem Schritt ging der alte Mann voran. Ich folgte ihm mit einigem Abstand, wie es sich für einen Sklaven gehörte. Verschiedene Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wer war er? Was wollte er von mir? Wohin führte er mich? Er hatte von einem weiten und gefahrvollen Weg gesprochen. Der Gedanke daran fühlte sich wie ein großer Stein in meinem Magen an. Mein ganzes Leben hatte ich im Tal verbracht. Nie war ich über die Felder, die sich rings um Tiánwǔ erstreckten, hinaus gekommen.

Ich blickte auf die Hügellandschaft, aus der sich in der Ferne einige Berge erhoben. Was lag hinter diesen Bergen? Dann schüttelte ich den Kopf und schalt mich in Gedanken selbst. Wie absurd. Die unbekannte Zukunft mit diesem Mann schien mich mehr zu belasten, als die Gewissheit der Schläge, die ich jeden Tag im Haus der Familie Liù erhalten hatte.

Wir passierten eine alte Holzbrücke, die sich über einen kleinen Bach spannte. Da drehte sich mein Führer um, deutete auf das sandige Ufer und sagte: “Wasch dich!” Wie befohlen trat ich an das Wasser heran und begann, mich auszuziehen. Ich watete in den Bach. Zunächst nutze ich nur meine Hände, um mich zu reinigen. Doch aus Furcht, meinen Meister warten zu lassen, legte ich mich schließlich mit meinem ganzen Körper in das kalte, knietiefe Wasser.

Er hatte sich von mir abgewandt. “Auch den Kopf!”, befahl er und ich tat wie geheißen. Er schien an meinem nackten Körper nicht interessiert zu sein. Fand er mich wegen meiner dunklen Haut auch abstoßend, so wie Liù Jiàn und die anderen? War er vielleicht ein Mönch und führte ein Leben in Enthaltsamkeit? Auch erinnerte ich mich an Erzählungen über Männer, die nicht an Frauen, sondern nur an anderen Männern interessiert waren. Es gab so viel, dass ich nicht wusste oder nicht verstand.

Seinen Blick weiter auf die Reisfelder gerichtet sprach er wieder zu mir: “Bevor wir weitergehen, möchte ich etwas klarstellen. Mein Name ist Dù Xīnwǔ. So möchte ich von dir auch genannt werden. Nicht Herr, nicht Meister oder sonst irgendetwas! Dù Xīnwǔ genügt.”

Obwohl er meine Reaktion nicht sehen konnte, nickte ich und stieg aus dem Bach. Da warf er ein Bündel in meine Arme und deutete mir, es zu öffnen. Ich war überrascht. Darin befanden sich ein Strohhut sowie eine Hose und ein Oberteil, beides aus einem groben grauen Stoff. Hinzu kam ein dunkelbraunes Tuch, dass ich am Tag als Mantel und in der Nacht als Decke verwenden konnte. Dù Xīnwǔ lachte: “Wir werden einige Zeit lang miteinander unterwegs sein. Da kann ich dich doch nicht stinkend und zerlumpt neben mir herlaufen lassen!” Dann drehte er sich um und marschierte weiter in Richtung der Berge.

Ich lächelte ungläubig, zog mir die neue Kleidung an und warf die alte Sachen in einen Graben neben der Straße. Dann setzte ich mir den Hut auf und warf den Sonnenschutz, den ich am Tag zuvor aus Schilf geflochten hatte, in den Bach. Von der Brücke aus beobachtete ich, wie er vom Wasser langsam fortgetragen wurde. Dann wandte ich mich Dù Xīnwǔ zu und lief ihm rasch hinterher.

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Wir hatten den Talboden hinter uns gelassen und folgten einem schmalen Pfad in die Hügel. Seitliches des Weges befanden sich zwischen Gemüsebeeten zwei kleine Bauernhäuser. Nebenan war ein umzäunter Bereich, in dem einige Schweine grunzend durch die Erde wühlten. Ein Kind spielte im Staub mit zwei abgebrochenen Zweigen.

“Ich bin ein alter Mann. Wenn ich mich dauernd umdrehen muss, wird mein Hals irgendwann steif. Sofern es die Verhältnisse zulassen, möchte ich, dass du neben mir gehst!” Ich folgte Dù Xīnwǔs Worten und ging schneller, um an seine Seite zu gelangen.

Ich hatte nun zum ersten Mal die Gelegenheit, meinen Führer genauer aus der Nähe und bei Tageslicht zu betrachtet. Er mochte zwischen 50 und 60 Jahre alt sein. Seine Haut hatte einen dunklen Teint. Wie ich musste er viel Zeit unter der Sonne verbracht haben. Kleine Fältchen in den Augenwinkeln gaben ihm ein freundliches, fast verschmitztes Aussehen. Sein Mund hatte jedoch einen festen Zug, der ihn entschlossen wirken ließ. Gemildert wurde der Ausdruck von einem grauen Bart, der ihm ein großväterliches Aussehen verlieh. Seine Hände waren grob und rau. Dù Xīnwǔ musste regelmäßig körperliche Arbeit geleistet haben.

Auch er musterte mich mit Interesse. Schließlich sagte er: “Du musst viele Fragen haben. Zum Beispiel, warum ich dich von deinen früheren Herren frei gelöst habe.”

Ich nickte.

“In den kommenden Tagen werde ich dir alles erklären. Denke aber nicht, dass ich es aus reinem Edelmut getan habe, oder weil mir dein Gesicht so gut gefällt!”

“Die Menschen in dieser Welt unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Schlechtigkeit. Es gibt manche unter ihnen, die sind sehr schlecht, und viele, die weniger schlecht sind. Aber keiner ist ohne Sünde. Du magst mir gegenüber Dankbarkeit empfinden, dass ich dir ein grausames Schicksal durch die Hände deiner alten Herren erspart habe. Aber bedenke, dass in diesem Moment jemand anderes deinen Platz als neue Sklavin der Familie Liù einnehmen wird.”

Der Gedanke erschütterte mich.

In meinem Kopf sah ich Liù Jiàn, wie er im Auftrag seines Vaters durch den Sklavenmarkt von Tiánwǔ schlenderte und dabei Menschen wie Schweinehälften taxierte. Er war auf der Suche nach einer neuen Sklavin. Jung sollte sie sein und hübsch. Sein Auge fiel auf ein Mädchen mit einem runden Gesicht, das in Seide gekleidet war, um interessierte Käufer anzulocken. Ihre Haut war weiß wie Jade und der gesenkte Blick ihrer mandelförmigen Augen verlieh ihr ein sanftmütiges Aussehen, dass ihn an ein Lämmchen erinnerte. Zufrieden langte er nach dem Geldbeutel. Seinem Vater würde dieses neue Ding für das Bett sicher gefallen.

Ich biss mir auf die Lippen.

Dann dachte ich mit Bestürzung an Lilie. Nach dem Fest hatte sie die Nacht im Bett eines Herren verbracht. Der rasche Aufbruch an diesem Morgen hatte keine Möglichkeit geboten, ihr Lebewohl zu sagen. Mit ihren Worten des Trostes war sie im Haus der Familie Liù meine einzige Vertraute gewesen. Durch ihre versteckten Geschenke aus der Küche hatte sie zu meinem Überleben beigetragen. Was würde nun aus ihr? Auch wenn ihre Stellung im Haus eine weit bessere als die meinige war – würde sie nicht einsam sein?

Ein Gefühl der Schuld überkam mich und ich verspürte tausend kleine Stiche in meinem Herzen. Aber was konnte ich dagegen tun? So war das Leben eines Sklaven. Ein Wort unserer Meister genügte, um unserem Leben eine neue Wende zu geben.

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Wir hatten die Bauernhäuser hinter uns gelassen und folgten dem Pfad stetig bergauf. Die Felder waren in zunächst in Buschland und schließlich in Wald übergegangen. Ich genoss den Schatten, den die Bäume in der Mittagshitze spendeten.

„Wie alt bist du?“ wollte mein Führer von mir wissen.

„Ich weiß nicht genau. Als ich in das Haus der Familie Liù kam, war ich 9 Jahre alt. Das war vor 5 oder 6 Jahren.“

„Wie kamst du in das Haus deiner früheren Herren?“

„Māma, bàba und gēge hatten nach einer schlechten Ernte kein Geld, um ihre Schulden zu bezahlen. Darum verkauften sie mich.“

„Eltern die ihre Kinder verkaufen müssen. Das Schicksal kann in der Tat grausam sein“, sagte mein Führer nachdenklich.

„Ich war nur eine Tochter. Mich wegzugeben, ist wie Wasser zu verschütten.“ Ich sprach ohne Emotionen. Warum auch? Als Mädchen war ich wenig wert. So hatten meine Eltern mit mir noch ein letztes gutes Geschäft gemacht.

Dù Xīnwǔ betrachtete mich für einen Moment. Er schien etwas sagen zu wollen. Doch dann besann er sich, richtete seinen Blick wieder nach vorne und ging schweigend weiter.

Auch ich wollte ihm Fragen stellen und mehr über ihn und den Grund unserer Reise herausfinden. Doch er vertröstete mich: “In den kommenden Tagen werden wir noch ausreichend Gelegenheit finden, um zu sprechen. Lass uns vorerst sehen, dass wir rasch fort kommen. Hier kann es für uns gefährlich werden.”

Ich stutzte. Warum befanden wir uns in Gefahr? Zu meinen bestehenden kamen neue Fragen hinzu.

Doch da ich vorerst keine Antworten erwarten konnte, beschloss ich, meine Umgebung genauer zu studieren. Es war das erste Mal seit meiner Kindheit, dass ich mich wieder ein einem Wald befand. Das Rascheln der Blätter, knackende Zweige unter unseren Füßen, die Geräusche verborgener Tiere. Alles wirkte befremdlich auf mich. Auch die Luft war anders, als in der Stadt oder auf den Feldern. Sie war kühl und roch frisch.

In meinem bisherigen Leben war solche Momente und Empfindungen kaum möglich gewesen. „Eine Sklavin, die Zeit hat, Bäume zu betrachten? Her mit dem Rohrstock! Gebt ihr sofort Arbeit!“

Nun sah ich Käfer über die Rinde von Bäumen krabbeln. Ich lauschte dem Zwitschern unbekannter Vögel. Auch stellte ich fest, dass sich die Art der vorkommenden Pflanzen veränderte, je weitere wir dem Pfad in die Berge folgten. Jeder Baum war interessant und hinter jedem Stein lag eine Überraschung. Den ganzen Tag lang sog ich diese neuen Eindrücke gierig auf.

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Kurz vor Sonnenuntergang öffnete sich der Wald und ich folgte meinem Führer auf einen Felsvorsprung. Die sich uns offenbarende Aussicht war wunderschön. Unter uns befand sich das von der Nachmittagssonne durchflutete Tal. Zwischen grünen Feldern und einem Netz aus Kanälen lag friedlich Tiánwǔ mit seinen stattlichen Häusern, Tempeln und Straßen. Vor den Mauern der Stadt sah ich einen Ochsen, der zum Fluss getrieben wurde. Menschen waren alleine oder in Gruppen über die Felder verteilt. Ein paar Reiter trabten auf ihren Pferden nach Osten.

Etwas abseits der Stadt lagen zwei kleine Siedlungen. Bauerndörfer, die aus Ansammlungen ärmlichen Hütten bestanden. Ich konnte mich nicht mehr genau daran erinnern, in welchem, aber in einem dieser Dörfer war ich aufgewachsen. Ich dachte an bàba, māma und großen Bruder, die irgendwo unter mir ihrem Tagesgeschäft nachgingen. Wie es ihnen wohl erging? Erinnerten sie sich noch an ihre Tochter, oder hatten sie mich vergessen? Hatte ihnen mein Verkauf das erhoffte besser Leben ermöglicht? Dù Xīnwǔ war wortlos auf den Pfad zurückgekehrt. Ich verharrte noch für einen Moment auf dem Felsen. Dann atmete ich tief ein und lief rasch in den Wald zurück, um wieder zu ihm aufzuschließen.

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